»Von der Sahara in die U-Bahn«
Text: Ahmed Mohammed Omer
Zeichnungen: Alice Socal
Um die Deutschen besser zu verstehen, sucht der Eritreer Merhawi Baire den Kontakt. Aber wie funktioniert das, wenn man die sozialen Umgangsformen nicht kennt?
The Eritrean Merhawi Baire tries to understand the Germans better by making contact with them. But how does that work when you don’t know the social norms?
Merhawi Baire kommt aus Eritrea und lebt seit fünf Monaten als Flüchtling in Hamburg. Seit er Asyl bekommen hat, besucht er einen Deutschkurs an einer Sprachschule im Stadtzentrum./Das deutsche Integrationsgesetz, das für alle Flüchtlinge gilt, besagt, dass Merhawi so lange Deutsch lernen muss, bis er das B1-Niveau erreicht hat./Früher war Merhawi Mathelehrer an einer Grundschule in Keren, einer Kleinstadt 90 km nördlich der eritreischen Hauptstadt Asmara./Nach 15 Jahren im Dienst entschloss Merhawi sich, Eritrea zu verlassen und eine bessere, sicherere Zukunft in Europa zu suchen.
Merhawi findet es schwierig, mit Deutschen ins Gespräch zu kommen. Die einzige Kontaktmöglichkeit ergibt sich während der täglichen U-Bahnfahrt zwischen dem Flüchtlingsheim in Niendorf Markt und der Deutschschule./„Die Menschen hier verhalten sich echt seltsam.“/Er findet einen Sitzplatz./Neben ihm ist ein Platz frei, aber einige Passagiere ziehen es vor zu stehen./„Warum setzt sich die Frau nicht neben mich? Soll ich ihr den Platz anbieten? Aber vielleicht macht man das in Deutschland nicht.“
„Warum setzt sie sich nicht neben dich?”/In der U-Bahn ist es grabesstill. Alle Passagiere scheinen beschäftigt.
Die junge Frau macht sich über ihr Essen her. Der Geruch verbreitet sich im ganzen Abteil, aber niemand beschwert sich.
Er schaut sich um. Vor ihm liest ein Mann seine Zeitung./Ihm gegenüber spielt ein Mädchen mit ihrem Handy herum./Er schaut auf: Im Fenster spiegelt sich ein junger Mann, der seine Freundin küsst./„Oh wow, ist das eine Filmszene?“/Merhawi kann nicht wegsehen./Das Pärchen küsst sich weiter. Merhawi hat keine andere Wahl als aus dem Fenster zu schauen.
In den 1960er- und 1970er-Jahren herrschte ständig Krieg zwischen Eritrea und seinem Nachbarstaat Äthiopien. Der Grenzverlauf zwischen beiden Ländern ist bis heute strittig./Endloser Militärdienst, Wirtschaftskrisen und Verweigerung von grundlegenden Bürgerrechten: Es gibt genug Gründe, warum junge Eritreer aus ihrem Land flüchten./Hunderttausende Soldaten, Beamte, Lehrer und andere Staatsdiener sind ebenfalls geflohen./Merhawi ist einer von vielen, die Eritrea in Richtung Sudan und Libyen verlassen haben. Dieser Weg führt durch die Sahara./Im Sudan arbeitete Merhawi Tag und Nacht, um genug Geld für die Flucht nach Libyen zusammenzubekommen.
Das ist die gefährlichste Route./Wer mehr Geld hat, kann die sicherere Route durch Ägypten und die Türkei nehmen./In Libyen besteigen viele Eritreer alte, seeuntaugliche Boote, um es bis zur italienischen Küste zu schaffen. Auf dem Mittelmeer riskieren sie ihr Leben./Wer es bis nach Italien schafft, reist meist in andere europäische Länder weiter, zum Beispiel nach Deutschland./„Starr’ mich nicht so an!“
Merhawi findet es immer noch schwer, Bücher auf Deutsch zu lesen. Candy Crush spielt er auch nicht gerade gern. Aber was soll er sonst während der zwei Stunden machen, die er täglich in der U-Bahn verbringt?
Asyl , Eritrea , Flucht , Gesellschaft , Gesetz , Hamburg , Heimat , Job , Kontakt , Krieg , Sprache , Verständnis
8 Seiten/Pages
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